Kooperation Wiener Linien und KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien
im Rahmen der U2 Verlängerung
Ausbaustufe 3: Verlängerung U2 - Nord bis Aspernstraße
Donaukartografie, Landschaft als Karte als Malerei
1942. Die Putzfrau bittet um Auskunft, während sie das Arbeitszimmer des Professors reinigt und vor einer wandfüllenden Weltkarte steht: „Was ist denn das große Rote da?“ Das seien die Verein¬igten Staaten. „Und das riesige Grüne?“ Das sei die Sowjetunion. „Und wo ist denn nun das Großdeut¬sche Reich?“ Der Professor deutet auf den kleinen blauen Klecks in der Mitte Europas. Die Putzfrau, zu Tode erschrocken: „Weiß das der Führer?“
Ein Bahnhof ist ein Ort des Durchganges, des Transits, an dem der Reisende ungewollt warten muss, bis es weiter geht und der Zug kommt, der ihn durch die Landschaft befördert. Der Reisende schlendert über den Bahnsteig, versucht sich abzulenken, die Zeit zu überbrücken. In anderer Weise überbrückt die Donaukartografie die Zeit: Sie stellt die sich über die Jahrhunderte hinweg ständig wandelnde und überlagernde Flussverläufe der Donau dar, das als Karte auf den Bahnsteig graviert ist, sodass der Reisende während er über den Bahnsteig flaniert, sich sozusagen gleichzeitig durch Raum und Zeit be¬wegt.
Die Donau ist das landschaftliche Wahrzeichen Wiens. Sie fließt seit Jahrtausenden aus den Alpen kommend durch das Wiener Becken, in einem sich ständig wandelnden Bett, das sich in seiner Aus¬dehnung weit über die Grenzen Wiens hinaus erstreckt. Erst mit der Donauregulierung wurde dieser Prozess des unbehinderten Mäandrierens beendet. Dieses Verschwinden und an anderer Stelle wieder Auftauchen des Flussbettes, dabei Sandbänke schaffend, kleine Inseln hinterlassend, jedoch nirgendwo festen Grund findend, prägte die Geschichte der Stadt: Wien zeugt von dem instabilen und unstruktu¬rierten Gemenge ehemaliger Landschaften. Der Fluss dreht sich ostwärts, dann westwärts, dann wieder zurück. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelten sich wiederholt völlig neue Geometrien, so dass über die Jahrhunderte ein Labyrinth sich überlagernder Flussläufe entstand, in dem jeder Einzelne auf unvermeidliche Weise langsam über die Zeit verschwindet, um wieder durch einen Anderen in neuer Form ersetzt zu werden. Diese ganzen alten Wege des Flusses, eingezeichnet in Steine und Erde, die einst durch die Hinterhöfe der Bauern flossen, sind eigentlich Fossile einer Landschaft. Verlorene Flüsse eingeprägt in die Landschaft. Die Tatsache, dass Wien in ein solches Zentrum mobilen Untergrundes erbaut wurde, erscheint ungewöhnlich und einzigartig: Eine Stadt gebaut auf hunderten von Hektar abgelagertem Auen¬schlamms, -lehms,–tons und Kiesen, der sich über die Jahrhunderte verfestigte.
Für die Bahnhöfe Donaumarina und Donaustadtbrücke wurde eine Idee entwickelt, die diese beson¬dere Situation, in die hinein Wien gegründet ist, berücksichtigt. Ausgangspunkt ist die geografische und städtebauliche Situation, die sich aus folgendem zusammensetzt: einerseits die mit dem Neubau der beiden Bahnhöfe geschaffenen Brückensituation über die Donau hinweg und anderseits der Erweiter¬ung Wiens durch ein Entwicklungsgebiet - der Donaumarina -, in dem sich Arbeit und Leben vereinen soll und das dazu Wien mit dem Erholungsgebiet der Donauinsel verbindet.
Das Werk verbindet die Situation des Wartens mit dem Ort, der Donaulandschaft, und dessen Land¬schaftsgeschichte. Längs des Verlaufes der beiden Bahnhöfe wird ein Schnitt gezogen, der sich über diese hinaus weit in das Wiener Becken hinein erstreckt, mit einer Ausdehnung von ca. 18km. Entlang dieses Schnitts wird der über die Jahrhunderte wechselnde Verlauf der Donau kartiert und als Gravur in die Bahnsteige der Bahnhöfe in einem Maßstab von 1:75 eingeschrieben. Dabei ist alles nördlich der Donau auf dem Bahnsteig der Donaustadtbrücke kartiert und alles südlich der Donau auf den Bahnstei¬gen der Donaumarina. Die Quellen, aus denen die Verläufe der Donau sich herleiten, gehen auf historische Karten zurück. Diese wurden in einem ungefähr halben Jahrhundertintervall seit 1710 übereinander geblendet. Die Zeitspanne von 300 Jahren ergibt sich aus dem Umstand, nur Karten benutzen zu können, die vermes¬sen wurden. Die erste nutzbare Karte ist die der Josephinische Landesaufnahme Wien, die um 1710 ge¬stochen wurde, die darauffolgende eine historische Karte aus dem Jahre 1770, dann eine Karte aus dem Jahre 1840, dann eine von der Planung des Donaudurchstichs um 1870 und über allen liegt eine Karte, die aus einer Satellitenaufnahme der Gegenwart hervorgeht und das Gebiet der heutigen Donau abbil¬det. Interessant ist es dabei zu betrachten, wie wenig die Donau sich seit über 135 Jahren verändert hat, dass sie genaugenommen in dieser Form seit 135 Jahren besteht. Um die einzelnen Karten auf dem Bahnsteig lesen zu können, sowohl geografisch als auch durch die Zeit hindurch, wurden aus den jeweiligen Karten die einzelnen Gewässernamen und Namen, die im Zusammenhang mit der Donau stehen, in einer Schrift aus der jeweiligen Zeit geschrieben. So stehen auf der Karte Namen, wie Krebswasser, die sich bis heute erhalten haben, neben anderen Namen, die es heute nicht mehr gibt, da die Landschaft sich umwandelte. Darüberhinaus stehen Flussnamen, die es heute noch gibt, die aber nicht mehr in ihrer ursprünglichen Benennung existieren, wie dem Wiener Arm, der auch als Wiener Wasser benannt wurde, der heute als Donau Kanal bezeichnet wird. Neben den ehemaligen Flussläufen der Donau, die sich in verschieden Farben darstellen, steht die Gewässer¬bezeichnung in der jeweiligen Schriftart der jeweiligen Karte, um ein zeitliches Einodnen ermöglichen zu können. Die Gewässerbezeichnungen werden entlang des Blindenleitsystems abgetragen, und wer¬den damit zur Legende der Karte. So ruft die Bewegung über den Bahnsteig ein geografisches Gedächtnis wach. Auch wenn die Karte in ihrer Dimension sozusagen selbst zur Landschaft wird, indem der Reisende ‚durch’ sie läuft, bleibt sie doch durch ihre Ausschnitthaftigkeit Malerei und bildet damit ein Gegenüber zu den Karten moderner mathematisch Vermessung. In gleicher Weise nutzt sie die Vogelperspektive, doch dem gegenüber vereinfacht sie damit nicht die Idee einer Karte als hilfreiche Abkürzung einer komplexen Wirklichkeit in einem handhabbaren Format. In ihr spiegelt sich die natürliche Beschaffen¬heit des Geländes, jedoch verliert sich der Reisende in ihr, indem er sich durch sie als Landschaft und Malerei bewegt. In ihrer Weise changiert die Arbeit zwischen Landschaft, Karte und Malerei.
1870-1875 durch Raimund Hinkel; Floridsdorf
Verschiedene Gewässer und Landschaftsbezeichnungen Wiens und die in der Karte vorkommen